Regnerisch beginnt auch der dritte Tag unserer Kalabrien-Tour. Es ist bereits Ende Oktober und heute steht ein Ausflug in das Geisterdorf Pentedattilo auf dem Programm. Abseits der Touristen-Hochsaison hoffen wir, das Dörfchen möglichst authentisch erleben zu dürfen.
Nach etwa zwei Stunden Autobahnfahrt von Pizzo, wo wir ein kleines Apartment gemietet haben, befinden wir uns am Fuße des Aspromonte – ein sagenumwobenes Bergmassiv im Süden Kalabriens, zu Deutsch rauer Berg. Hier liegt, auf etwa 250 Metern Seehöhe, das verlassene Dorf.
Mystik und gespenstische Stille
Dicht ist der Nebel, als wir die steile, kurvenreiche Straße hinauffahren, umgeben von Kaktusfeigen, wildem Fenchel, Mandelbäumen und Eukalyptus. Keine Menschenseele, kein Auto weit und breit. Es ist eine mystische Ecke.
Einige Kilometer Fahrt und wir erreichen endlich unser Ziel. Der Nebel lichtet sich langsam über dem steil aufragenden Berg und die ersten Sonnenstrahlen fallen auf die kleinen, dicht aneinander gereihten Häuser.
Eingebettet in einen massiven Felsen, umgeben von wilder Natur, liegt die Geisterstadt Pentedattilo
Pentedattilo kommt aus dem Griechischen und bedeutet fünf Finger (pente (πέντε), fünf und Dactilo (δάκτυλο), Finger). Diese sprachliche Eigenheit ist eines der zahlreichen Zeugnisse der langen Herrschaft griechischer Volksstämme in Kalabrien. Benannt wurde der Ort nach der Form der Klippe des Monte Calvario, die wie eine riesige Hand mit fünf Fingern in die bezaubernde Naturkulisse ragt. Tatsächlich wird in einigen Dörfern im südlichen Aspromonte noch Grekaniko gesprochen, ein aus dem Alt- und Mittelgriechischen hervorgegangener Dialekt.
Eine winzige Geisterstadt mit bewegter Geschichte
Schon von weitem wirkt das paese fantasma (Geisterdorf) geheimnisvoll. Nach ein paar Minuten Fußmarsch erreichen wir die ersten kleinen Gässchen mit den unbewohnten Häuschen. Um uns nur gespenstische Stille, das Gefühl mit einer Zeitmaschine in die Vergangenheit gereist zu sein. Nur ein paar Katzen streunen zwischen den Ruinen umher.
Pentedattilo hat eine ereignisreiche Geschichte. Der Ursprung reicht bis ins Jahr 640 v. Chr. zurück. Der Ort war aufgrund seiner strategischen Kontrollposition über den Fluss Sant’Elia, ein privilegierter Weg nach Aspromonte. Während der griechisch-römischen Zeit war Pentedattilo ein bedeutendes Wirtschaftszentrum.
Mit der byzantinischen Herrschaft erlebte das Dorf einen langsamen Niedergang, aufgrund der ständigen Plünderungen durch die Sarazenen und später durch den Herzog von Kalabrien. Im 12. Jahrhundert wurde es von den Normannen erobert.
Pentedattilo und die Hand des Teufels
Ab diesem Zeitpunkt wurde der Ort von mehreren Adelsfamilien regiert. Zwei von ihnen, die Alberti und die Abenavoli prägten seine Geschichte aufgrund eines blutrünstigen Ereignisses, bekannt als Strage degli Alberti – das Massaker an den Alberti. Verschiedene Legenden ranken sich um den blutrünstigen Vorfall, die fünf Steinfinger des Bergs werden daher auch oft als Hand des Teufels bezeichnet.
Das tragische Ereignis soll sich in etwa so zugetragen haben: Die Alberti waren Marquisen von Pentedattilo und Bewohner der örtlichen Burg, während die Abenavoli Barone der nahe gelegenen Stadt Montebello Ionico waren. Zwischen den beiden Familien begann ein langjähriger Streit um den Grundbesitz. Dennoch verliebte sich der Baron Bernardino Abenavoli in Antonietta Alberti, die in die Familie seines Erzfeindes hineingeboren worden war. Er wollte sie heiraten.
Doch auch der Sohn des Vizekönigs Don Petrillo Cortez, verliebte sich in Antonietta und hielt um ihre Hand an. Ihre Familie erteilte die Erlaubnis, sehr zur Wut und Empörung des Barons. Rasend vor Eifersucht betrat er in der Osternacht des 16. April 1686 mit einer Gruppe bewaffneter Männer die Burg der Alberti. In einem grausamen Gemetzel töteten sie sämtliche Familienmitglieder. Lediglich Antonietta, das Objekt seiner Begierde, verschonte der Baron. Er heiratete sie wenige Tage später.
Die Menschen gingen – die Natur hielt Einzug
Das kleine Dorf wurde 1783 durch ein Erdbeben schwer beschädigt, wodurch ein Großteil der Bevölkerung in das nahe gelegene Melito Porto Salvo abwanderte. Mitte der 60er Jahre des letzten Jahrhunderts wurden die restlichen Bewohner wegen Erdbebengefahr evakuiert. Nachdem die Menschen gingen, begann der Ort zu verfallen. Nur die Natur hielt Einzug zwischen den verlassenen Überresten. Sie macht auch vor den Innenräumen nicht Halt. Üppige mediterrane Vegetation bahnt sich ihren Weg durch Fensteröffnungen und Türen.
Wir besichtigen die Überreste der Burg, die aus dem Mittelalter stammt. Die Ruinen vermischen sich mit dem Felsen, wirken wie ein Teil davon. Eine sehr steile Treppe führt in das ehemalige Burginnere.
Die Chiesa dei santi Pietro e Paolo, Kirche der Heiligen Peter und Paul, ist ein weiteres Highlight, das es in diesem Dorf zu bewundern gibt. Sie ist wahrscheinlich byzantinischen Ursprungs, mit einem einzigen Schiff und einem quadratischen Glockenturm, passend zur barocken Fassade der Kirche. Die Kuppel ist im byzantinischen Stil gestaltet, mit einer achteckigen Spitze, die mit Keramik bedeckt ist. Das mit zahlreichen wertvollen Handwerksarbeiten ausgestattete Kircheninnere beherbergt die Gräber der Familie Alberti. Seit kurzer Zeit finden hier auch wieder Messen und sogar Hochzeiten statt. Während unseres Besuchs war das Gotteshaus leider nicht geöffnet.
Altes Dorf – neues Leben
Der Ortskern besteht aus malerischen Ruinen und einigen Häusern, die mittlerweile renoviert wurden. In den vergangenen Jahren haben etliche Menschen, darunter viele Kunstschaffende begonnen, dem kleinen Ort wieder neues Leben einzuhauchen.
Wir entdecken ein Restaurant, eine kleine Bücherei und eine Bottega d‘ Arte, einen kleinen Laden mit Kunsthandwerk. Sie sind außerhalb der Hauptsaison geschlossen.
Auch Veranstaltungen finden hier jährlich statt: Jeden Sommer ist Pentedattilo ein fester Bühnenstandort des Wanderfestivals Paleariza, einer wichtigen Kulturveranstaltung in der Region mit ethnischer und volkstümlicher Musik. Erwähnenswert ist auch das Pentedattilo-Filmfestival, bei dem nationale und internationale Kurzfilme gezeigt werden.
Text und Fotos: Nanja Antonczyk
Wir werden auf unserer Website in Kürze noch mehr über die faszinierende Region Kalabrien berichten.
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